Marketing in Sondersituationen ‒Aktiv handeln statt passiv zusehen
- Philipp T. Meyer, Rosenberg Strategic Communications
- 29. Apr.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 2 Tagen
Philipp T. Meyer ist Mitgründer und Partner von Rosenberg Strategic Communications und verfügt über mehr als zwei Jahrzehnte Erfahrung in der Marketingkommunikation. Er ist spezialisiert auf Krisenkommunikation, Markenpositionierung und Content Marketing. Vor seiner Arbeit bei RosenbergSC war er in leitenden Positionen bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sowie in der Fahrzeug- und Konsumgüterindustrie tätig.
Das Muster ist klassisch und häufig zu beobachten: Eine latente Krise wird akut, die Kommunikationschefin koordiniert nach den ersten Journalistenanfragen hastig ein Krisenteam, bestehend aus Geschäftsführung, Rechtsabteilung und Kommunikations-Verantwortlichen. Die Wagenburg schließt sich. Wer in diesen inneren Zirkeln jedoch meist fehlt: das Marketing. Gerade in kleineren und mittleren Unternehmen, die nicht über dezidierte Krisenstäbe, Notfallpläne oder Krisenhandbücher verfügen, bleibt das Marketing meist in einer passiven Zuschauerrolle verhaftet. Dies ist bei genauerem Hinsehen verwunderlich: Wer, wenn nicht das Marketing ist im Verbund mit dem Vertrieb dafür verantwortlich, dass Umsatz und Gewinn generiert werden – in guten wie in schlechten Zeiten? Die Marketer stehen schließlich für die zentrale Zielgruppe eines jeden Unternehmens gerade: die Kunden. Ein Produktrückruf oder ein Shitstorm auf X kosten schnell jede Menge Vertrauen. Im ungünstigsten Fall beenden Kunden langjährige Beziehungen. Sehr ungünstig, da die Akquise von Neukunden erwiesenermaßen fünf- bis sechsmal teurer ist als die Pflege bestehender Kunden. Nicht jede Sondersituation ist automatisch marketingrelevant. Gleichwohl sollte jede Stresssituation stets auch aus der Perspektive der (potentiellen) Kunden betrachtet und analysiert werden. Selbst interne Compliance-Probleme können negativ auf Kundenbeziehungen und Markenimage durchschlagen, wenn sie zutage treten. Und hierauf muss das Marketing antworten und richtig reagieren können.
Die Kunden als vernachlässigte Stakeholdergruppe
Was liegt da näher, als Marketing einen festen Platz im inneren Krisenzirkel zuzuweisen? Als Anwalt der Kunden, der die angespannte Lage aus deren Sicht analysiert, bewertet und in deren Sinn handelt. Es gibt dabei nur ein entscheidendes Problem: Das Marketing ist meist nicht annähernd so gut auf Sondersituationen vorbereitet wie seine benachbarten Kolleginnen aus Corporate Communications und PR. Diese verfügen, gerade in Großunternehmen, über einen gut ausgerüsteten und jederzeit griffbereiten Erste-Hilfe-Koffer. In ihm befinden sich Krisensimulationen, Medientrainings, Krisenhandbücher zur Krisenprävention. Pressemitteilungen, Q&As, Kernbotschaften für die akute Krise sowie Medienarbeit und Regelkommunikation für die Zeit nach der Ausnahmesituation. Und für das Marketing? Meist Fehlanzeige. Hier gibt es häufig keine etablierten Strukturen, Leitfäden, Prozesse oder Instrumente. Tritt ein Ernstfall ein, wird meist reflexartig die eigene Bedeutung beschnitten: Mediabudgets werden gekürzt, Kommunikationsstopps verhängt, Kampagnen heruntergefahren. Möglichst unsichtbar zu werden und sich wegzuducken, lautet häufig die Maxime. Der Geschäftsführer eines krisengebeutelten mittelständischen Unternehmens bringt es gut auf den Punkt: „Sondersituationen und Krisen sind denkbar schlechte Werbung, deshalb lassen wir das Marketing in der Regel außen vor – höchstens ein, zwei Social-Media-Posts, mehr nicht.“ Das ist beileibe keine Einzelmeinung, sondern gängige Praxis. Auch in der sonst so publikationsfreudigen Wissenschaft entpuppt sich das Marketing eher als Schönwetterdisziplin. Der Umgang mit Sondersituationen und Krisen wird in der Standardliteratur zum Marketing fast nirgends thematisiert. Ein echtes Versäumnis, wie die Erfahrung zeigt.
Was kann, was muss das Marketing tun, um sich bei Krisen im Dienst der Kunden aus der dritten oder zweiten Reihe nach vorne in den inneren Krisenzirkel zu kämpfen? Für alle Phasen einer Krisen-/Sondersituation entsprechende Maßnahmen und Lösungen zur Bewältigung beisteuern!

Mit Marketing durch alle Krisenphasen
In der Präventionsphase empfiehlt es sich, eine robuste Infrastruktur aufzubauen, um drohende Sondersituationen und Krisen frühzeitig zu erkennen und vor ihrem öffentlichkeitswirksamen Ausbrechen einzudämmen. Dazu existieren unter anderem Werkzeuge zum Medienmonitoring und Social Media Listening. Tools wie Talkwalker oder Brandwatch helfen dabei, aufkommendes Ungemach, etwa in Form eines Shitstorms, zu erkennen. Auch sollte jeder Kanal zum Kunden – der Kundensupport, die Website, das Direktmarketing bis hin zu Social Media – mit Leitfäden und Verhaltensregeln für den Ernstfall ausgestattet werden. Obligatorisch sollten regelmäßige Krisentrainings, idealerweise gemeinsam mit Kommunikation und PR, sein: Ein Print-Visual wird als rassistisch interpretiert. Durch einen Cyberangriff geraten Kontodaten der Kunden ins Darknet. Eine Mitarbeiterin beschimpft einen Kunden, während ein TikToker unbemerkt mitfilmt. Interne Abläufe und Reaktionen sollten bei Krisentrainings durch hypothetische Szenarien wie diese eingeübt und geschärft werden.
Während einer akuten Krise wiederum sollten die Instrumente der Marketingkommunikation darauf ausgerichtet werden, die Kundenbeziehungen aufrechtzuerhalten. Gerne auch mit Humor und Transparenz. Gut hat dies die US-Fast-Food-Kette Taco Bell gelöst. Ihr wurde vor einigen Jahren vorgeworfen, dass ihre Burger nur 35 Prozent Fleisch enthalten würden. Daraufhin reagierte das Unternehmen mit der Print-Kampagne „Thank you for suing us“. In ihr legte der damalige CEO Greg Creed die Inhaltsstoffe des Rindfleischs offen und entkräftete so die Vorwürfe. Im Sinne des Bonmots von Winston Churchill „Never waste a good crisis“ können Unternehmen akute Krisen sogar als Chance nutzen, ihr eigenes Leistungsangebot zu erweitern. So wie die schottische Brauerei BrewDog, die während der Corona-Pandemie ihre Produktion auf Desinfektionsmittel mit auffälligem Design umstellte.
In der Post-Krisenphase, beim Wiederherstellen der Markenreputation, muss schließlich im ersten Schritt quantifiziert werden, wie groß der entstandene Flurschaden ist. Wie stark hat das Vertrauen und die Loyalität der Kunden gelitten? Aus dieser Analyse ergibt sich, ob das Unternehmen im Extremfall die Marke sogar neu positionieren oder „nur“ die Markenbotschaften nachjustieren muss.
Es gibt jede Menge Aufgaben für das Marketing, sich in Krisen zu bewähren und einen signifikanten Beitrag zu leisten, damit das Unternehmen gut aus diesen Sondersituationen kommt. Diese sollten Marketers dringend angehen, indem sie deutlich machen, wie wichtig es ist, in Krisen nicht in alte Reflexe und Muster zu verfallen, sondern direkt und schnell die eigenen Kunden zu adressieren. Das Aufzeigen drohender Umsatzverluste durch abwandernde Kunden wäre ein erster, sehr plastischer Schritt, dem Marketing zu einer gewichtigeren Rolle zu verhelfen. Handeln statt zuschauen, am besten integriert im inneren Zirkel jedes Krisenteams.
