Wenn der Kunde im Mittelpunkt steht und sich niemand um ihn kümmert
- Meik Vogler, Havas Creative Group
- 28. Apr.
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 5 Tagen
Meik Vogler ist ein Customer-Experience-Enthusiast. Mit Wurzeln im CRM begleitet er seit fast 25 Jahren Unternehmen und Marken in den Bereichen Digitalisierung und Kommunikation. Nach Stationen in nationalen und internationalen Top-Agenturen wie Ogilvy, Serviceplan oder Jung von Matt ist er heute Chief Client Officer der Havas Creative Group Germany. Neben seiner Rolle als Agenturgeschäftsführer ist er Ambassador des Artificial Intelligence Center Hamburg (ARIC) e.V., hält Vorlesungen zum Thema Künstliche Intelligenz an der Technischen Hochschule Mittelhessen und ist Co-Autor der Bücher „Wie Künstliche Intelligenz unser Leben prägt“ (Haufe) und „KI im Marketing“ (Springer).
Stellen Sie sich die folgenden Situationen vor: Nach einer Beschwerde werden Sie ohne Namen angeschrieben und das Unternehmen verliert sich in der Aneinanderreihung von Textbausteinen, statt empathisch auf die Inhalte Ihrer Beschwerde einzugehen. Oder Sie bekommen in der Vorbereitung Ihrer innerdeutschen Reise von Ihrer Airline spannende Features wie weltweite Roamingangebote vorgeschlagen. Und der Online-Shop Ihres Vertrauens hört nicht auf, Ihnen die Schuhe, die Sie nicht wollten – oder noch schlimmer: schon bestellt haben – auf diversen Websites anzubieten. Was wie ein schlechter Scherz aus den frühen 2000er Jahren klingt, ist heute leider immer noch Realität. Wenn Sie diese Situation vielleicht sogar aus Ihrem Unternehmen kennen, dann sollten Sie diesen Beitrag lesen. Am Ende haben Sie eine Idee, wie es sich besser machen lässt.
Es ist kein Geheimnis: Eine hohe Kundenzufriedenheit führt nachweislich zum wirtschaftlichen Erfolg von Unternehmen und eine personalisierte Customer Experience erhöht die Wahrscheinlichkeit von tatsächlichen Käufen. Auffallend ist, dass Unternehmen dem häufig auf zwei Arten Rechnung tragen: Irgendwo in der Positionierung wird die Formulierung „Bei uns steht der Kunde im Mittelpunkt“ verwendet und es werden mitunter teure Technologien angeschafft. Beides erfolgt leider allzu oft ohne ganzheitliche kundenorientierte Marketingstrategie. So stehen Kund*innen sehr alleine und unverstanden in ebendiesem Mittelpunkt, umringt von Personalisierungstools, E-Mail-Automatisierungen und Outbound-Agenten.
Mit diesem Vorgehen schädigen Unternehmen unnötig ihre eigene Marke und lassen Geschäftspotenzial in relevanter Größenordnung liegen. Es ist keine neue Information, dass Bestandskund*innen eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, wieder bei einem Unternehmen oder einer Marke zu kaufen¹. Und nicht nur das: In Europa braucht es sieben Erstkäufer*innen, um das Umsatzvolumen einer Stammkäufer*in zu erzielen.
Menschen erwarten heute eine gute, ja sogar personalisierte Customer Experience. Sie nennen es nur anders.
Neben den genannten Hard Facts gibt es aber auch eine Veränderung in der Haltung von Verbraucher*innen gegenüber Marken. Mit der Corona-Pandemie änderte sich das Einkaufsverhalten nachhaltig. Die Bindung an stationäre Handelsangebote hat stark abgenommen. Gleichzeitig gewannen Marken an Bedeutung, die in der Zeit mit vielen Zerwürfnissen Vertrauen, Seriosität, Qualität und auch einen positiven gesellschaftlichen Impact vermitteln konnten. Dazu passt: Laut Edelman Trust Barometer 2025² trauen Menschen Unternehmen mehr als der Politik, Medien oder Non-Profit-Organisationen (60 Prozent zu 56 Prozent, 52 Prozent, 48 Prozent). Grundsätzlich sind Menschen also bereit, Marken Vertrauen zu schenken. Ein Teil der Wahrheit ist aber auch, dass sie im Gegenzug eine entsprechende Behandlung erwarten. Boston Consulting verwendet in ihrem Retail Banking Report³ eine schöne Formulierung: Die Menschen wünschen sich von ihrer Bank, sie solle sich mehr „... wie ein guter Freund“ verhalten. Sie solle ein Ort sein, an dem man sich wenden kann, „... um ehrlichen Rat zur persönlichen Situation …“ zu erhalten.
Das bedeutet unter dem Strich nichts anderes, als dass Menschen erwarten, individuell und persönlich behandelt zu werden. Übersetzt ins Marketing-Deutsch sprechen wir von einer „nahtlosen Customer Journey“. Also das Identifizieren von Menschen, gefolgt von einer individuellen Behandlung bis zum Kauf oder Wiederkauf. In einer digitalisierten Welt längst keine Utopie mehr, sondern eine tägliche Aufgabe und Herausforderung für Marketer.
Technologie ist nicht die Lösung, sie ist Enabler.
Dass es für modernes Customer-Experience-Management Technologie braucht, ist keine Überraschung. Und dass es am Markt eine Vielzahl von Tool- und Service-Anbietern gibt, ist jeder Marketing-Entscheider*in durch die Vielzahl an Vertriebsanfragen, die ihn oder sie jeden Tag ereilen, mehr als präsent. Genau hier beginnen die Probleme in unserer Branche. CMOs werden heute von der Digitalisierungswelle förmlich unter die Wasseroberfläche gedrückt. Sie müssen ihre Organisationen und Prozesse dringend digitalisieren – laut CMO Survey 2024 von Deloitte⁴ sehen nur rund 29 Prozent der CMOs ihr Unternehmen als vollständig digitalisiert – und dann steht auch noch das Thema Künstliche Intelligenz vor der Tür. Da ist es großartig, wenn Tool-Anbieter einfache Implementierung sowie maximalen und vor allem automatisierten Erfolg versprechen.
Eine häufige Folge: eine falsche Perspektive auf Seiten der Marketer. Sie denken aus den Tools heraus und freuen sich über die schier endlosen Möglichkeiten, die mit der Implementierung einhergehen. Ob diese Tools sinnvolle Lösungen entlang der eigenen Marketingstrategie bieten und ob sie wirklich in die eigene Systemlandschaft passen, ist dabei leider oft zweitrangig. Zu groß ist der Druck, digitalen Erfolg im Unternehmen zeigen zu müssen. Und da kann man sich nichts vorwerfen lassen, wenn man eines der großen Experience Tools implementiert hat. So weit die Theorie … Im Ergebnis stehen die Unternehmen vor der Situation, dass sie eine Vielzahl von hochgerüsteten Systemen haben, die in der Einzelbetrachtung alle gute Funktionen liefern, am Ende aber nicht miteinander kommunizieren und somit keine ganzheitliche Begleitung der Kund*innen über die unterschiedlichen Phasen des Funnels ermöglichen. Sie lassen sich von Softwareanbietern und -implementierern tolle Lösungen verkaufen, die sie später nicht im Sinne der Marke nutzen können. Oder anders formuliert: Was hilft die schönste E-Mail-Automatisierung, wenn ich keine relevanten Inhalte habe?
Wie aber schaffe ich es als Marketingverantwortliche, dass sich meine Marke an allen Kontaktpunkten selbstähnlich anfühlt und ich die Menschen möglichst individuell begleite?
6 Schritte zu einer Customer Experience, die Impact erzeugt.
Die Verantwortung für Kommunikation UND Technologie gehört in die Hand des Marketings
Wir alle wissen um ihre Bedeutung und doch werden sie so gerne vermieden: konkrete Ziele. Es geht darum, wer für eine Marke von Bedeutung ist („Die gute alte Zielgruppe“) und was die Beziehung mit ihnen der Marke bringen soll. Darauf aufbauend lassen sich Aufgaben für die Kommunikation ableiten und messbar machen. Letzteres ist dabei der wichtigste Punkt: denn ohne Messbarkeit bleibt den Marketingverantwortlichen nur eine Reise durch die Dunkelheit. Es kommt also darauf an, sich im Vorfeld sehr genau zu überlegen, wie man Wirkung beschreiben und anhand welcher Messgrößen sie nachgewiesen werden kann. Oder welche Werte man nutzt, um sich der Nachweisbarkeit anzunähern. Und daraus ergeben sich dann auch die Anforderungen an die Technologie, Stichwort „Tracking“.
Es braucht Relationship Goals
Wir alle wissen um ihre Bedeutung und doch werden sie so gerne vermieden: konkrete Ziele. Es geht darum, wer für eine Marke von Bedeutung ist („Die gute alte Zielgruppe“) und was die Beziehung mit ihnen der Marke bringen soll. Darauf aufbauend lassen sich Aufgaben für die Kommunikation ableiten und messbar machen. Letzteres ist dabei der wichtigste Punkt: denn ohne Messbarkeit bleibt den Marketingverantwortlichen nur eine Reise durch die Dunkelheit. Es kommt also darauf an, sich im Vorfeld sehr genau zu überlegen, wie man Wirkung beschreiben und anhand welcher Messgrößen sie nachgewiesen werden kann. Oder welche Werte man nutzt, um sich der Nachweisbarkeit anzunähern. Und daraus ergeben sich dann auch die Anforderungen an die Technologie, Stichwort „Tracking“.

Die Marke bestimmt Kommunikation und Services
Wir sollten uns immer wieder vor Augen führen, dass die Marke das wichtigste Asset ist, das ein Unternehmen besitzen kann. So wurde der Wert der Marke Telekom im aktuellen „Brand Finance Global 500“-Ranking⁵ auf 85,3 Milliarden US-Dollar taxiert. Bei einer Marktkapitalisierung von knapp 184 Milliarden US-Dollar sind das beeindruckende 46 Prozent. Und dieser Wert kommt nicht von ungefähr. Die Telekom investiert seit Jahren stark in ihre Marke und richtet alle Aktivitäten konsequent an ihrer Positionierung „Connecting your world“ aus. Ganz egal, ob es Kampagnen oder Produkt- und Service-Angebote sind. Alles muss auf den Markenkern einzahlen. Und das geschieht mit beeindruckendem Erfolg. Anders als bei Wettbewerbern wie Telefónica o2 oder 1&1, die aus Markenperspektive in den letzten Jahren eher einen Schlingerkurs fahren und mit sinkender oder stagnierender Marktkapitalisierung zu kämpfen haben, zeigt die Kurve der Marke Telekom nach oben und sowohl Markenwert als auch Marktkapitalisierung eilen von Höchstwert zu Höchstwert.

Macht Daten verfügbar
Das Marketing der Zukunft ist „Marketing around data“. Und damit beginnt eine besondere Herausforderung. Unternehmen müssen es schaffen, Daten an unterschiedlichen Kontaktpunkten zu sammeln und diese über Systemgrenzen hinweg verfügbar zu machen. Alleine die Einführung von KI zwingt uns zu diesem Schritt. Gleichzeitig braucht es einen Perspektivwechsel in den unterschiedlichen Bereichen und Abteilungen eines Unternehmens. Weg von Hoheitswissen in einzelnen Feldern hin zu einer freien Zugänglichkeit von Informationen. In Zeiten, in denen zum Beispiel das Nutzungsverhalten digitaler Services in einem Auto Absprungpunkt für Up- oder Cross-Selling sein kann, dürfen wir uns keine Barrieren mehr erlauben. Ein Unternehmen, das auf diesem Weg mutige und vor allem konsequente Entscheidungen getroffen hat, ist TUI Cruises mit ihrer Marke „Mein Schiff“. Das Unternehmen hat sich der Aufgabe angenommen, den Kern der Marke – individuelle Entspannung – ernst zu nehmen und ein personalisiertes Markenerlebnis über alle Kontaktstufen hinweg zu bieten: vor, während und nach der Reise. Damit dies gelingt, wurde eine datenbasierte Arbeitsweise im gesamten Unternehmen eingeführt. Im Vordergrund steht die Gewinnung und Nutzung sogenannter 1st Party Data – also Daten, die das Unternehmen selbst sammelt –, die je nach Kanal und Einsatzfeld mit Fremddaten angereichert werden. Als Basis dient eine durchlässige Infrastruktur, die über den gesamten Funnel Daten sammelt und an die nächste Phase beziehungsweise den nächsten Kontaktpunkt übergibt. Ein Projekt, das nicht von heute auf morgen umgesetzt, sondern über mehrere Jahre sehr konsequent vorangetrieben wurde. Und heute eine signifikante Steigerung der Marketingperformance zur Folge hat.

Der Funnel ist das zentrale Steuerungstool
Marken werden in der heutigen Zeit nicht durch klassisches Advertising gebaut. Jeder Kontaktpunkt mit der Marke trägt zu ihrer Wahrnehmung bei. Und alles geschieht gleichzeitig. Da kann man als Marketingverantwortliche schnell den Überblick verlieren. Oder man schafft sich ein Steuerungstool, das in der Verdichtung einfach ist und gleichzeitig Leitplanken für alle an der Kommunikation beteiligten Teams liefert. Der berühmte Funnel wird zum Tool der Stunde. Alle kennen ihn und gerade deswegen hilft er dabei, kommunikative Aufgaben zu visualisieren. Sie lassen sich prägnant für jede Phase – Awareness, Consideration, Purchase, Loyalty – beschreiben und mit Kennzahlen hinterlegen. Sortiert man die Kommunikationskanäle entlang des Funnels und macht ihre Verbindungen und Abhängigkeiten zueinander sichtbar, entsteht das perfekte Planungstool für die Steuerung und Optimierung von Maßnahmen. Das Gute dabei: Die Logik lässt sich sowohl grundsätzlich für die Ausrichtung der Kanäle als auch spezifisch für einzelne Kampagnen anwenden.

Fokus statt Chatbot – konzentriert die Kraft dort, wo es wirklich wichtig ist
Wir alle kennen die Situation: Ein Wettbewerber unserer Marke hat einen Chatbot auf den Markt gebracht. Mit KI. Das ist heute wichtig! Und schon rumort es im eigenen Unternehmen. Fragen wie „Warum sind die vor uns?“ und „Wann haben wir einen Chatbot?“ wabern durch die Gänge. Nur die Frage „Bringt das unser Geschäft nach vorne?“ wird nicht gestellt. Bei all den neuen und immer viel verheißenden Technologien kann man schnell den Überblick verlieren. Und leider gerät dabei oft aus dem Blick, was für die eigene Entwicklung richtig und wichtig ist. Deswegen gilt es, den Schwerpunkt auf die Aktivitäten zu legen, die das Unternehmen nachhaltig beflügeln. Der eilig entwickelte Chatbot mag intern den Eindruck vermitteln, state-of-the-art zu sein. Ohne Anbindung an die wichtigsten Datentöpfe und eine klare Rolle in der Marketingstrategie wird er aus Kundenperspektive allerdings schnell zum Ärgernis. Mit dem Effekt einer negativen Markenwahrnehmung.
Fazit
Digitalisierung und technologischer Fortschritt fühlen sich an wie ein Hochgeschwindigkeitsrennen, bei dem es darum geht, möglichst schnell viele Meter zu machen. Doch das ist ein Trugschluss: Die Welt wird sich in Zukunft nicht nur noch schneller, sondern vor allem deutlich stärker verändern, als wir uns alle vorstellen können. Deswegen ist es unerlässlich, einen Plan für die Weiterentwicklung des eigenen Unternehmens zu haben und auf die Dinge zu fokussieren, die einen wirklichen Impact erzeugen. Die „Menschen im Mittelpunkt“ sollten dabei ernst genommen werden. Denn nur sie und ihr Verhalten bilden den Ausgangspunkt für die Marketingstrategie. Das technologische Setup dient der Unterstützung ebendieser Strategie. Richtig aufgestellt und mit den richtigen Partnern an der Seite gilt dann für den Erfolg in der Zukunft: Er ist nicht sicher, aber sehr wahrscheinlich.
Lesen Sie auch:
Quellen:
1 Adobe Digital Index Report – der Wert von Bestandskunden, 2012
2 Edelman Trust Barometer, 2025
3 BCG Global Retail Banking Report, 2022
4 Deloitte CMO Survey, 2024
5 Brand Finance Global 500 Ranking, 2025