KI begeistert – nur (noch) nicht im Alltag: Warum zwischen Hype und Realität aktuell eine Lücke klafft
- Thomas Mickeleit & Jörg Forthmann, AG CommTech
- 30. Apr.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: vor 6 Tagen
Von THOMAS MICKELEIT UND JÖRG FORTHMANN
Thomas Mickeleit ist Gründer von KommunikationNeuDenken!, einer Beratungs-Boutique in Hamburg, die Kommunikationsfunktionen bei ihrer digitalen Transformation unterstützt. Zuvor leitete er als Mitglied der Geschäftsleitung von Microsoft Deutschland die Kommunikation. Vorherige Stationen waren Volkswagen, IBM und Grundig. Seit 2021 leitet er die Arbeitsgemeinschaft CommTech, in der sich mehr als 700 digital-affine Kommunikatorinnen und Kommunikatoren organisiert haben, um voneinander zu lernen und damit die Digitalisierung ihrer Organisationen zu beschleunigen.
Jörg Forthmann ist im IMWF Institut für Management- und Wirtschaftsforschung verantwortlich für die Weiterentwicklung der Big-Data- und KI-Analysen sowie für den Aufbau von Geschäftsmodellen für diese neuen Anwendungen. Nach einer fundierten journalistischen Ausbildung arbeitete er als freier Journalist unter anderem für das Hamburger Abendblatt und als PR-Berater in Hamburg. Von 1999 bis 2002 leitete er die Unternehmenskommunikation der Mummert Consulting AG, anschließend als Geschäftsführender Gesellschafter die Faktenkontor GmbH.
„KI ist in der Kommunikation angekommen“ – so empfinden es offenbar viele Kommunikationsprofis. Im aktuellen CommTech Index Report* der AG CommTech sehen 81 Prozent der Kommunikationsverantwortlichen Künstliche Intelligenz (KI) als Chance für ihre Arbeit. Das ist eine überraschend hohe Aufgeschlossenheit, gerade vor dem Hintergrund mancher gesellschaftlicher Skepsis gegenüber KI. Gleichzeitig zeigt sich ein ausgeprägter Nutzenoptimismus: Mehr als 70 Prozent attestieren der generativen KI einen großen oder sogar sehr großen Nutzen, und kein einziger Befragter verneint den Nutzen komplett. Anders gesagt: Praktisch alle erwarten positive Effekte durch KI (s. Abbildung 1). Allerdings klafft zwischen der Euphorie und der Realität eine Lücke. Zwar haben die meisten Unternehmen ihren Teams grünes Licht für KI-Experimente gegeben (laut Studie dürfen 86 Prozent der Befragten KI-Tools wie ChatGPT offiziell am Arbeitsplatz einsetzen). Doch von einem flächendeckenden, strategischen KI-Einsatz kann noch keine Rede sein. Mehr als die Hälfte nutzt KI bislang nur „gelegentlich“ im Job, lediglich 38 Prozent der Befragten greifen täglich und integriert auf KI-Tools zurück. Oft bleibt es bei Experimenten mit Chatbots und einmaligen Pilotprojekten. Kurz: Die Offenheit und Neugier sind enorm, aber die praktische Umsetzung hakt noch.

Abbildung 1: Einschätzung des Nutzens von KI-Tools in der Kommunikation. Mehr als zwei Drittel der Befragten sehen einen „großen“ oder „sehr großen“ Nutzen in generativer KI; nur 3 % halten den Nutzen für gering und 0 % für nicht vorhanden. Diese optimistische Grundhaltung schafft gute Voraussetzungen, KI in der Kommunikationsarbeit zu verankern. Quelle: CommTech Index Report 2024
(laut Studie dürfen 86 Prozent der Befragten KI-Tools wie ChatGPT offiziell am Arbeitsplatz einsetzen). Doch von einem flächendeckenden, strategischen KI-Einsatz kann noch keine Rede sein. Mehr als die Hälfte nutzt KI bislang nur „gelegentlich“ im Job, lediglich 38 Prozent der Befragten greifen täglich und integriert auf KI-Tools zurück. Oft bleibt es bei Experimenten mit Chatbots und einmaligen Pilotprojekten. Kurz: Die Offenheit und Neugier sind enorm, aber die praktische Umsetzung hakt noch.
CommTech-Index tritt auf der Stelle – außer bei großen Agenturen
Diese Diskrepanz spiegelt sich im CommTech-Index 2024 wider, der den Digitalisierungsgrad der Kommunikation misst. Der Index stagniert bei 45 Punkten (von 100) und liegt damit genau auf Vorjahresniveau. Mit anderen Worten: trotz KI-Hype kein Fortschritt. Das ist ernüchternd, hatten doch viele gehofft, generative KI würde einen Digitalisierungsschub auslösen.
Die fehlende Bewegung im Index bedeutet allerdings nicht, dass gar nichts passiert. Tatsächlich laufen vielerorts Digitalisierungsprojekte. Besonders große PR-Agenturen haben Gas gegeben: Sie erkannten, dass KI ihr Geschäftsmodell bedrohen kann, und investierten erheblich in neue Tools. Ihr Indexwert stieg dadurch von 44 auf 48 Punkte und überholte den der Unternehmenskommunikatoren (s. Abbildung 2). Kleinere Agenturen und Teams hingegen treten auf der Stelle. Bei ihnen ist spürbar, dass der Digitalisierungspfad ein hartes Stück Arbeit ist – länger und dorniger als gedacht. Das bremst den anfänglichen Schwung: Statt eines Sprints erleben viele einen Marathonlauf und suchen erst mal nach „low hanging fruits“. Die Erkenntnis „Digitalisierung ist kein Sprint, sondern ein Marathon“ greift um sich. In Summe führt das zu einer leichten Ernüchterung in der Branche, die den digitalen Wandel verlangsamt hat.

Abbildung 2: CommTech-Index (0–100) für alle Befragten sowie separat für Unternehmenskommunikation und PR-Agenturen. Insgesamt bleibt der Wert mit 45 Punkten unverändert zum Vorjahr. Agenturen liegen mit 48 Punkten vor den Kommunikationsabteilungen der Unternehmen. Quelle: CommTech Index Report 2024
Datennutzung bleibt die Achillesferse der Digitalisierung
Ein Grundproblem auf dem Weg zur KI-Einführung ist hausgemacht: Viele Kommunikationsabteilungen schöpfen das Potenzial ihrer Daten nicht aus. Ausgerechnet der Baustein „Nutzung von Daten“ erzielte im Index die niedrigsten Werte. Hier schlummert ungenutztes Potenzial, denn wer Daten wirklich konsequent nutzt, verlässt das Experimentierstadium und kommt in die Umsetzung. Doch noch fühlen sich viele im Blindflug: In 39 Prozent der Unternehmen und 46 Prozent der Agenturen ist niemand explizit für Datenanalyse zuständig. Zwar ist Datenkompetenz die Grundlage für KI-Anwendungen, aber genau hier hapert es. Anstatt systematisch Daten zu sammeln, auszuwerten und in Insights zu verwandeln, verlassen sich fast 40 Prozent der Kommunikationsteams auf Bauchgefühl – ein fataler Wert. Hier werden echte Chancen vertan!
Dabei wird der Stellenwert von Data Analytics durchaus erkannt: 90 Prozent der Befragten sehen in Data Analytics eine der größten technologischen Chancen – noch vor KI selbst (81 Prozent) und Prozessautomatisierung (73 Prozent). Doch diese Einsicht allein führt noch nicht zu besseren Datenpraktiken. Offenbar stehen viele Organisationen erst am Anfang, die nötigen Dateninfrastrukturen und Skills aufzubauen. Ohne belastbare Daten jedoch bleibt KI-gestützte Kommunikation Stückwerk. Der Report mahnt, hier schnell Erfolge – „Low Hanging Fruits“ – zu suchen, um mit kleinen Siegen Schwung für größere Sprünge zu holen. Denn klar ist: ohne Daten keine leistungsfähige KI.
KI-Nutzung: Viel Experiment, wenig Strategie
Wenn KI in der Praxis zum Einsatz kommt, dann meist in Form von punktuellen Experimenten. Viele Kommunikationsprofis probieren ChatGPT & Co. gelegentlich aus, binden sie aber noch nicht fest in ihre Abläufe ein. Von strategischer Verankerung kann keine Rede sein. Stattdessen dominiert das Muster „Hier und da mal testen“ – typisch für eine frühe Experimentierphase.
Schaut man genauer hin, wofür KI bereits eingesetzt wird, zeigt sich ein klares Bild: Textproduktion steht mit 90 Prozent Nutzung unangefochten auf Platz 1. Gerade Pressestellen und Newsrooms greifen gerne auf KI-Schreibassistenten zurück – in Kommunikationsabteilungen sogar zu 92 Prozent. Mit großem Abstand folgen die Themenrecherche (70 Prozent), das Erstellen von Briefings und Q&A-Dokumenten (45 Prozent) sowie die Entwicklung von Kommunikationskonzepten (40 Prozent). Andere KI-Anwendungen fristen noch ein Nischendasein: Beispielsweise nutzen bislang nur 28 Prozent KI zur Bildgenerierung. Ebenso setzt bislang weniger als ein Fünftel der Befragten KI ein, um automatisierte Analysen (zum Beispiel von Inhalten oder Reputation) zu fahren, Personas zu erstellen oder Stakeholder zu identifizieren (s. Abbildung 3).
Diese Zahlen verdeutlichen: Die meisten Kommunikatoren tasten sich erst heran. KI wird gerne für operative Aufgaben wie das Schreiben eingesetzt – hier sind schnelle Produktivitätsgewinne spürbar. Doch tiefgreifende Prozessänderungen oder neue Geschäftsmodelle sind damit noch nicht verbunden. Immerhin zeigt das viele Ausprobieren schon erste Erfolge: Gegenüber 2023 verzeichnen alle Arten von Kommunikationsorganisationen (ob klein oder groß, Unternehmen oder Agentur) Fortschritte beim Technologieeinsatz. Der nächste Schritt wäre nun, aus den vielen Einzelinitiativen eine übergreifende Digitalstrategie zu formen und die Transformation zu institutionalisieren. Doch genau an diesem Sprung von der Spielwiese zur Strategie fehlt es bislang in der Breite.

Abbildung 3: Wofür die Kommunikationsbranche generative KI bereits einsetzt. Quelle: CommTech Index Report 2024
Weiterbildung statt Wandel: Hoffnung auf den „Skills“-Durchbruch
Angesichts der komplizierten Umsetzung wagen viele Organisationen noch keine großen Umbauten ihrer Strukturen oder Prozesse – stattdessen setzen sie auf Weiterbildung. Der Fokus liegt darauf, die vorhandenen Teams fit für KI und neue Tools zu machen, in der Hoffnung, damit die digitalen Projekte voranzutreiben. Laut CommTech-Index planen 62 Prozent der Kommunikationsabteilungen, in den nächsten 12 Monaten verstärkt in Schulungen zu investieren. Das ist ein deutlicher Anstieg (im Vorjahr nur 35 Prozent) und zeigt: „Upskilling“ hat Priorität. Viele haben erkannt, dass digitale Kompetenzen die Voraussetzung für erfolgreiche Transformation sind.
Diese Schulungsoffensive geht einher mit einer zurückhaltenden Personalpolitik: Die Bereitschaft, neue Digitalexperten von außen einzustellen, ist gering. Stattdessen sollen die bestehenden Mitarbeiter die digitale Lernkurve nehmen. Interne Workshops, Trainings und der Austausch mit externen Experten stehen hoch im Kurs. In mittelgroßen Kommunikationsabteilungen haben sich interne Schulungen und Workshops inzwischen an die zweite Stelle der Investitionsprioritäten geschoben – ein Indiz, dass man zuerst das eigene Team befähigen will, bevor man neue Technologieprojekte angeht.
Digitalisierung der Kommunikation: Ein Marathon, kein Sprint
Die hohe Lernkurve der letzten Monate hat offenbar manchen Enthusiasten auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. In der Selbsteinschätzung der Befragten zeigt sich ein spannender Trend: Immer weniger halten sich selbst für „Innovatoren“ in Sachen Digitalisierung. Im Vorjahr glaubten noch 4 Prozent (über alle Befragten), ihre digitale Transformation praktisch abgeschlossen zu haben – dieser Anteil liegt nun nur noch bei 3 Prozent. Besonders drastisch ist der Einbruch bei großen Kommunikationsabteilungen: 2023 sahen sich dort noch 12 Prozent als Innovatoren, nun sind es gerade einmal ein Prozent. Diese Abrüstung im Selbstbild ist ernüchternd, aber auch gesund: Die Praktiker haben erkannt, dass die Aufgabe größer ist als gedacht. Viele stellten fest, dass KI-Einführung und digitale Transformation deutlich komplexer und aufwendiger sind als anfänglich angenommen.
Der rasante technische Fortschritt trägt seinen Teil dazu bei. Entwicklungen wie Generative AI (GenAI) heben die Latte ständig höher, während die eigenen Digitalisierungsprojekte nur schrittweise vorankommen. Was gestern noch als „fortschrittlich“ galt, kann heute schon wieder altbacken wirken. Diese Erkenntnis hat die Branche demütiger gemacht. Statt vorschnell „Mission Accomplished“ zu verkünden, ordnen sich viele Kommunikatoren nun realistischerweise als „Early Adopters“ oder „Frühe Mehrheit“ ein, die noch einiges vor sich haben. Die selbstkritische Justierung ist letztlich positiv zu sehen – sie zeigt, dass man bereit ist zu lernen und nachzujustieren, anstatt naiv an Illusionen festzuhalten. In kleineren Teams macht sich sogar verhaltener Optimismus breit: Der Anteil der „Nachzügler“ (Digitalisierungsmuffel) ist dort von 36 Prozent auf 20 Prozent gefallen, viele haben also erste Schritte getan. Die großen Player bleiben aber die Taktgeber – sie ziehen beim digitalen Wandel das Tempo an.
Unterm Strich durchläuft die Branche gerade einen Realitätscheck. Die KI-Euphorie ist keineswegs verflogen, aber sie wird nun von einem pragmatischeren Blick auf die Umsetzung begleitet. Aus „Trailblazern“ werden mitunter „Transpirierer“ – sprich, aus euphorischen Vorreitern werden hart arbeitende Praktiker, die die Mammutaufgabe der digitalen Transformation Stück für Stück bewältigen. Die Innovation Culture in Kommunikationsabteilungen ist damit erwachsener geworden: weniger Glamour, dafür mehr konkrete Verbesserungsarbeit im Hintergrund. Es könnte gut sein, dass in ein, zwei Jahren wieder mehr Selbstbewusstsein einkehrt – dann nämlich, wenn die jetzigen Lern- und Umbauprozesse Früchte tragen und digitale Erfolge sichtbarer werden.
*Der CommTech-Index 2024/25 wurde von der AG CommTech zum zweiten Mal durchgeführt. Die Onlinebefragung fand im Sommer 2024 (Juni–August) statt und erzielte mit 352 Teilnehmern die größte Stichprobe dieser Art im deutschsprachigen Raum. Befragt wurden Kommunikationsverantwortliche aus Unternehmen und PR-Agenturen in Deutschland, Österreich und der Schweiz (DACH).